Obwohl sich in der EU der Staat so breitmacht wie noch nie, ist Staatsversagen nicht nur auf Impfebene, sondern auch in puncto Wohlstandssicherung unverkennbar. Staatlich dirigistische Konjunkturpolitik plus demütiger Bezahlung durch die EZB wird fälschlicherweise als Lösung aller Sorgen, als eierlegende Wollmilchsau betrachtet. Dabei zerstört gerade diese Ohnsorg-Fiskal-und Geldpolitik zukünftige Wirtschaftskraft.
Ohne Fleiß kein Preis
Deutschland war in der europäischen Schulklasse lange Zeit der Finanz- und Wirtschafts-Primus. Mit Mut, Fleiß, Ausdauer und Wettbewerbsfähigkeit haben wir uns nach dem II. Weltkrieg einen bemerkenswerten Wohlstand aufgebaut. Dabei wurde nicht nur auf hypermoralische Korrektheit geachtet. Es wurden Entscheidungen für die Zukunft getroffen. Nicht umsonst haben asiatische Länder dieses alte Deutschland als Vorbild für ihre eigene Wirtschaftspolitik gewählt.
Auch nach der Gründung der Eurozone war die Hoffnung groß, dass sich die europäischen Partnerländer assimilieren, um auch bei sich Wohlstandsgewinne wie bei uns aufzubauen. Doch es kam anders. Sicher kann man niemanden zu seinem (Wirtschafts-)Glück zwingen. Aber eine umgekehrte Anpassung Deutschlands an „romanische Verhältnisse“ darf auch nicht stattfinden.
Frankreich und Italien nutzen die Krise für den nachhaltigen Umbau Europas
Mario Draghi, ehemaliger EZB-Chef, hat sofort nach Amtsantritt als Ministerpräsident in Rom eine Weisheit seines Landsmanns, des italienischen Philosophen Niccolò Machiavelli aufgegriffen: „Lass keine Krise ungenutzt verstreichen“. Seine Krise sind die wirtschaftlichen Schäden nach Corona. Insofern will er die europäischen Stabilitätsregeln liberalisieren, auf Deutsch: Abschwächen. Beim französischen Präsidenten Emmanuel Macron rennt er damit offene Türen ein. Paris gilt zwar als Stadt der Liebe. Doch in Stabilität wird man sich dort nie verlieben.
Verliebt sind beide aber in höhere Verschuldung. Die Zeche dafür soll Mutter Natur zahlen, nennen wir sie EZB. Mit klarer Deflations-Propaganda hat sie sich selbst ein Alibi für möglichst ewige geldpolitische Üppigkeit geschaffen. So kann ihre Geldflut jegliche Sorge um die europäische Wirtschaft vermeintlich im Keim ersticken. Anleihenkäufe und Minuszinsen sollen Kredite so billig halten, dass Unternehmen, Verbraucher und vor allem Staaten ihre Überschuldung mühelos tragen können.
Der Fluch der guten finanz- und geldpolitischen Tat
Alle Probleme sollen mit staatswirtschaftlich süßem Wein betäubt werden. Leider behindert diese weinselige Stimmung den wirtschaftlichen Wandel und innovative Geschäftsmodelle. Denn diese Rettungspolitik lässt viele veraltete Wirtschaftsstrukturen und Zombie-Unternehmen überleben, die aus eigener Kraft nicht überleben würden. Werden sie aber künstlich am Leben gehalten und besetzen sie Marktanteile, verknappen sie Kapital, Kapazitäten und Facharbeiter, um die Modernisierung der Volkswirtschaft voranzutreiben. Tatsächlich legt die Produktivität der Arbeitnehmer in Europa kaum noch zu und gehen die Firmenneugründungen immer weiter zurück.
Es mag nicht jedem schmecken, doch erst die „Schöpferische Zerstörung“ – wie es Ökonom Joseph Schumpeter nannte – schafft neue überlebens- und wettbewerbsfähiger Strukturen. Wie sonst lassen sich Fortschritt, Wohlstand und Arbeitsplätze sichern? Das Kaputt-Subventionieren von Kohle und Stahl in den Montan-Bundesländern hat letztendlich nicht zu mehr Wohlstand im Vergleich zu den süddeutschen Bundesländern geführt, die beherzt auf Zukunft gesetzt haben.
Wenn man diesen Überlebenskampf ignoriert, ist das Einzige, was Zukunft hat, ein zäher Staatsapparat, der Bürgern und Unternehmen das Leben schwermacht. Der Mittelstand wird dezimiert, größere Firmen wandern ab und nehmen ihr Know-How und Arbeitsplätze gleich mit. Ebenfalls suchen leistungs- und risikobereite Bürger, die ihre Ambitionen in Europa nicht erfüllen können, das Weite. Die Zurückgebliebenen resignieren, flüchten sich in ihren eigenen Mikrokosmos und lehnen den Staat schließlich als immer weniger funktionsfähig ab. Das beschreibt ziemlich genau die Lage in Italien. Will es Gesamt-Europa es wirklich so weit kommen lassen?
Solch eine Schlafwagen-Politik kann man sich in einer wettbewerbsstarken Welt nicht erlauben. So will China nicht mehr bloß billige Werkbank der Welt sein. Es will Hocheinkommens-, Wohlstandsland werden. Und es ist hungrig, mutig, innovativ und wettbewerbsfähig, um sich die weltweiten Fleischtöpfe zu sichern. China nutzt die Corona-Krise als Chance: Bis 2025 will das Land in zehn technologischen Schlüsselindustrien weltweit führend sein. Und die USA werden verhindern, dass Export-Europa einen free lunch erhält, d.h. Trittbrettfahrer des US-Wirtschaftswachstums wird. Bei der Erneuerung der Infrastruktur setzt Joe Biden strikt auf amerikanische Unternehmen.
Die Zeit spielt für Frankreich und Italien, doch könnte Deutschland die Uhr anhalten
Eigentlich müsste Europa wissen, was die Stunde geschlagen hat. Doch scheint es ziemlich beratungsresistent zu sein. Man vertraut weiter auf den romanischen Müßiggang, das Schulden-Dolce Vita und das Susi Sorglos-Paket der EZB. Und je mehr man sich an den bequemen Status Quo gewöhnt hat, umso unwahrscheinlicher ist es, dass man ihn wieder verändert. In der Tat werden die südeuropäischen Spürhunde nicht lockerlassen. Sie werden schnell die nächste Krise wittern. Krise ist doch irgendwie immer.
Jetzt muss Deutschland einschreiten. Kein Land der EU steht mehr in der Verantwortung, die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion stabil und fit zu halten. Zwar beharrt Berlin darauf, dass Lockerungen von Stabilitäts- und Schuldenregeln nur einmalige Notfallmaßnahmen sind. Aber ist das glaubwürdig? Berlin hat den Stabilitäts-Rubikon schon mehrere Male ohne Rückkehr überschritten. So wollte man Griechenland zunächst nicht helfen, hat dann aber den europäischen Rettungsschirm installiert. Gemeinsame europäische Schulden wurden früher als Todsünde gebrandmarkt. Jetzt haben wir sie. Und schon wieder wird behauptet, sie seien einmalig. Wer es glaubt, wird selig.
Der oder die nächste Bundeskanzler(in) muss Politik wieder offensiv, nicht nur defensiv betreiben. Wir müssen aus der Gefälligkeitsökonomie heraus. Wirtschaftskompetenz muss aus der politischen Schmuddelecke heraus. Es müssen wieder Entscheidungen getroffen werden, die man auch bei Auseinandersetzungen und Shitstorms durchhält. Bei Zahnschmerzen hilft ja auch keine Schokolade, um kurzfristige Aufhellungseffekte zu erzielen, die die Situation später noch verschärfen. Nur wenn man Karies und Parodontose konsequent behandelt bzw. nicht mehr zu rettende Zähne zieht, lässt der Schmerz nachhaltig nach und man kann zukünftig wieder wirtschaftlich kraftvoll zubeißen.
Berlin soll zwar die Regeln für das Fußballspiel der Wirtschaft vorgeben, möglichst unbürokratisch und effizient. Auf dem Platz lässt die Politik dann ökonomische Freiheit und Wettbewerb sowie marktwirtschaftliche Spielfreude zu. Damit würde Deutschland auch Europa einen Ruck in die richtige Richtung geben.
Doch leider fällt so ein Wirtschaftssystem, obwohl es in Deutschland viele Jahrzehnte gut funktioniert hat, immer mehr dem staatswirtschaftlichen und politisch korrekten Zeitgeist zum Opfer.
Wenn Politiker aus Mutlosigkeit oder um des lieben Friedens willen immer nur den einfachen Weg gehen wollen, werden sie der Bevölkerung am Ende einen deutlich schwereren Weg aufgezwungen haben. Politiker sollten sich nicht nur als Friedensnobelpreisträger verstehen. Sie sollten den Wirtschaftsnobelpreis anstreben. Denn nichts schafft mehr (Euro-)Frieden als Perspektiven.
Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank. Mit Wertpapieranalyse und Anlagestrategien beschäftigt er sich seit Abschluss seines betriebswirtschaftlichen Studiums 1990. Halver verfügt über langjährige Erfahrung als Kapitalmarkt- und Börsenkommentator. Er ist aus Funk und Fernsehen bekannt und schreibt regelmäßig für Cash.