Das Brillen-Start-up Mister Spex hat kürzlich vorgemacht, wozu ausreichend Wachstumskapital deutsche Start-ups befähigen kann: Weil das Unternehmen Geld für die weitere Expansion benötigte, wäre es 2018 fast an die Börse gegangen – mit allen Risiken, die dieser Schritt für ein junges Unternehmen birgt. Doch dann konnte Mister Spex im letzten Moment noch ausreichend Kapital einsammeln und vertage den IPO.
Drei Jahre wuchs das Start-up in Ruhe weiter, bis es Anfang Juli schließlich doch den Sprung an die Börse wagte. Mister Spex verkaufte 15 Millionen Aktien für insgesamt 375 Millionen Euro, von denen 245 Millionen direkt in die Kassen des Unternehmens flossen. 130 Millionen gingen an Altanleger. Ein Erfolg auf ganzer Linie.
Die Finanzierungsrunde über 65 Millionen Euro, die Mister Spex 2019 diese Strategie ermöglicht hatte, wurde von dem Büll Family Office aus Hamburg angeführt. Damit ist die Geschichte von Mister Spex ein Vorbild für den Weg, den die deutsche Start-up-Szene in den kommenden Jahren einschlagen sollte: Mit inländischem Kapital zum nachhaltigen Erfolg.
Die Betonung auf inländisch ist dabei nicht etwa deshalb wichtig, weil ausländischen Investoren ihr Erfolg in Deutschland nicht gegönnt sei. Doch es macht einen entscheidenden Unterschied, ob ein Berliner Start-up Geld aus den USA, aus Asien oder eben aus Hamburg erhält.
Multiplikationseffekt für das Start-up-Ökosystem
Denn wenn ein Investor oder Gründer dank eines IPO oder eines Exit einen finanziellen Erfolg feiert, sucht er umgehend neue Investitionsmöglichkeiten oder Projekte, die er entwickeln kann. Somit kommt das frische Kapital anderen Start-ups zugute, gleichzeitig wird das Umfeld insgesamt belebt und ein Multiplikationseffekt entsteht.
In den USA wird dieses Phänomen als „PayPal-Mafia“ bezeichnet. Dieser Begriff bezieht sich auf die die Gründer und frühen Angestellten des Online-Zahlungsdienstleisters, der 2002 von Ebay aufgekauft wurde. Viele Mitarbeiter, die von PayPal übernommen worden waren, verließen das neue Unternehmen damals schnell und gründeten anschließend neue Start-ups oder investierten ihr Geld in die jene anderer Gründer. Die prominentesten Beispiele dieser Mafia sind der Tesla-Gründer Elon Musk und Peter Thiel, der Serieninvestor mit deutschen Wurzeln.
Bei Mister Spex hat dieser Effekt schon geklappt: So beteiligten sich neben dem Hamburger Family Office auch StudiVZ-Gründer Ehssan Dariani und E-Commercepionier Stephan Schambach an der Finanzierungsrunde – beides frühe deutsche Gründer, die bis heute das deutsche Start-up-Ökosystem beleben.
Es wäre wünschenswert, wenn diese Effekte in Deutschland noch häufiger und zuverlässiger greifen würden, denn die hiesige Start-up-Szene leidet weiterhin unter einem großen Defizit im Bereich der Finanzierung. Denn trotz einiger Fortschritte in den vergangenen Jahren schnitt Deutschland 2020 im Vergleich zu den europäischen Partnerländern erneut schlechter ab.
Weiterhin zu wenig Risikokapital in Deutschland
Eine Studie der Unternehmensberatung EY illustrierte das Problem kürzlich: Ihr zufolge erhielten deutsche Start-ups im vergangenen Jahr insgesamt 5,3 Milliarden Euro Investitionen – und damit 15 Prozent weniger als im Vorjahr. Start-ups in Großbritannien bekamen hingegen mit 13,9 Milliarden Euro 25 Prozent mehr als 2019 – und das trotz Corona-Pandemie und Brexit. Selbst Frankreich, dessen Wirtschaft deutlich kleiner ist als die deutsche, kam immerhin auf 5,2 Milliarden Euro.
Deutschland hat dabei vor allem ein Größen-Problem: Während frühe Seed-Finanzierungen verhältnismäßig unproblematisch zu erhalten sind, ist es gerade das Growth Capital, das fehlt. In dieser Phase des Unternehmenswachstums geht es um zweistellige Millionenbeträge, die für deutsche Investoren teils schwer zu stemmen sind, weil die Fonds nicht die nötige Größe haben.
In diesem Moment kommen dann oft ausländische Investoren ins Spiel. Wie sehr diese es zuletzt auf den deutschen Start-up-Markt abgesehen haben, zeigt ein Blick auf Berlin: Dort öffnen vermehrt Venture Capital Funds mit deutlich größeren Budgets Niederlassungen, um einen besseren Überblick über den Markt zu haben und bei interessanten Investmentmöglichkeiten schneller zum Zug kommen. Das neuste Beispiel für diesen Trend ist der US-Investor Activant Capital, der kürzlich sein erstes Büro auf dem europäischen Festland eröffnete – und sich für Berlin entschied.
Mittelstand in der Verantwortung
Nun ist es an den deutschen Investoren, sich das Heft nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Denn neben den ausbleibenden Multiplikationseffekten droht bei ausländischen Investments auch die Gefahr, dass die Start-ups ins Ausland abwandern und möglicherweise dort den Börsengang wagen. Zwar hat die deutsche Regierung mit der Einrichtung des Zukunftsfonds ein wichtiges Zeichen für die Start-up-Szene gesetzt.
Doch deutsche Investoren sollen darauf achten, nicht zu nur Hand in Hand mit dem Staat in Finanzierungsrunden zu gehen, sondern weiterhin schnell und risikobereit ihren eigenen Weg zu finden.
Eine wichtige Rolle könnte dabei auch der deutsche Mittelstand einnehmen, der bisher im Start-up-Bereich noch zu verhalten unterwegs ist. Denn branchenverwandte Start-ups könnten nicht nur von der Kapitalkraft etablierter Unternehmen profitieren, auch ihr Knowhow, ihre Kontakte und Branchenkenntnis wären Pluspunkte. Umgekehrt liegen die Vorteile auf der Hand: Start-ups sind Innovationstreiber, öffnen neue Horizonte – und ihrem Erfolg winken große Gewinne.
Autor Thorsten Beckmann ist Geschäftsführer der internationalen Kommunikationsagentur achtung!