Der Volkswirt Erik Händeler verlässt sich als Anhänger der Kondratieff-Theorie nicht auf die Modelle der Lehrbuch-Ökonomie. Im Cash.-Interview erklärt er, warum die gängigen Erklärungen der Finanzkrise zu kurz greifen und was uns in der kommenden Epoche der Wissensgesellschaft erwartet.
Cash.: Worin sehen Sie die Ursache der Weltfinanz- und -wirtschaftskrise?
Händeler: Sicherlich nicht darin, dass Banker weltweit beschlossen haben, aus Gier unseren Wohlstand zu verzocken und damit die Realwirtschaft in Schieflage brachten. Tatsächlich ist die Reihenfolge genau umgekehrt als in der veröffentlichten Wahrnehmung: Die Blasen auf den Finanzmärkten haben sich erst gebildet, weil die Fortschritte in der Realwirtschaft stagnierten.
Cash.: Sie sind also keine Folge niedriger Zinsen und billigen Geldes?
Händeler: Die Zinsen spiegeln nur Angebot und Nachfrage auf dem Geldmarkt. Sie sanken erst, weil es nicht mehr viel gab, wofür es sich lohnte, zu investieren. 30 Jahre lang machten Computer Investitionen rentabel. Durch sie konnten Arbeitszeit und Ressourcen gespart, Kosten gesenkt und Jobs geschaffen werden. Doch seit der Jahrtausendwende ebbt dieser Produktivitätsschub ab – nicht nur bei uns, sondern auch in den Schwellenländern.
Cash.: Das war für Investoren jedoch kein Grund zu sparen…
Händeler: Das Geld ging an die Börse. Doch wenn die Kurse für Aktien, aber auch für Immobilien oder Rohstoffe, rasant und unverhältnismäßig steigen, drückt das aus, dass es keine sinnvollen Alternativen für Investitionen gibt.
Cash.: Also sind Übertreibungen auf den Finanzmärkten eine logische Konsequenz mangelnder Möglichkeiten, in produktiven Fortschritt zu investieren?
Händeler: Im Prinzip ja. Aber natürlich spielt auch das Makro-Umfeld eine Rolle. Nur wenn die Zinsen niedrig sind und die Konjunktur künstlich mit Zentralbankgeld gedopt wird, bekommen Leute Kredite, die sie sich nicht leisten können. Doch wenn im realen Leben ankommt, dass die Gewinnmargen mangels ausreichender Verbesserungen unter Druck geraten, platzt die Blase. Das ist in der aktuellen Krise übrigens nicht anders gewesen als beim Gründerkrach nach dem Bau der wichtigsten Eisenbahnstrecken 1873 oder im Jahr 1929, nachdem alle Fabriken elektrifiziert und die allermeisten Haushalte mit Strom versorgt waren.
Cash.: Spekuliert wurde natürlich schon immer. Dennoch hat sich der Rahmen verändert. Hätten private Investoren Geld bereitgestellt, um Dampfmaschine oder Eisenbahn zu entwickeln, wenn sie alternativ mit maximalem Kredithebel und entsprechend beschränkter Haftung zweistellige Jahresrenditen mit strukturierten Wertpapieren hätten einfahren können?
Händeler: Wir haben aktuell dieselbe Ausgangslage wie nach jedem Höhepunkt eines Kondratieff-Strukturzyklus, daran ändern die Finanzierungsbedingungen nicht viel. Das bedeutet: Niemand wird spekulieren, wenn er mit sicherer Festanlage Traumrenditen erzielen kann. Das relativiert auch die lehrbuchmäßige Zinsmechanik. Wenn Unternehmer durch Innovationen hohe Gewinne machen, können sie auch hohe Zinsen bezahlen. Umgekehrt nützen Niedrigzinsen nichts, wenn die produktive Entwicklung auf der Stelle tritt.
Cash.: Doch auch wenn man die Theorie der langen Strukturwellen als gegeben nimmt, lässt sich schwer bestreiten, dass die Impulse in Auf- und Abschwüngen zunehmend heftig ausschlagen. Können kurzfristige Renditemotive den Fortschritt beeinträchtigen, weil nicht ausreichend in Zukunftstechnologien investiert wird?
Händeler: Eindeutig: Ja. Kurzfristige Renditeziele senken den Wohlstand, weil sie Raubbau auf Kosten von Investitionen, Substanz und Vertrauen betreiben. Volatil sind die Kurse allerdings immer, wenn Unsicherheit auf den Märkten herrscht, also im Abschwung – das war 1929 auch nicht anders.