Wirecard: „Who pays for it?“

Schon bisher war klar, dass die Wirecard AG, der Vorstand (Foto: Ex-Vorstandschef Markus Braun) und der Aufsichtsrat den Wirecard-Anlegern mit hoher Wahrscheinlichkeit haften. Doch bei keinem dieser Gegner wird ausreichend Haftungsmasse zu finden sein.

Für Wirecard-Aktionäre ist die Erlangung von Schadensersatz schwierig, deswegen wenden sie sich jetzt gegen den Staat. Damit könnten sie Erfolg haben. Gastbeitrag der Rechtsanwälte Robert Peres und Dr. Marc Liebscher

Seit der spektakulären Insolvenz der Wirecard AG stellen sich Staatsanwaltschaften, Aufsichtsbehörden, Medien und der Untersuchungsausschuss des Bundestages die Frage nach dem „who dun it“. Geschädigte Inverstoren suchen aber vielmehr eine Antwort auf die Frage „who pays for it“.

Schon bisher war klar, dass die Wirecard AG, der Vorstand und der Aufsichtsrat den Wirecard-Anlegern mit hoher Wahrscheinlichkeit haften, zum Beispiel wegen falscher Kapitalmarktinformation. So unproblematisch diese Haftung ist, so uninteressant ist sie leider, denn bei keinem dieser Gegner wird auch nur annähernd ausreichend Haftungsmasse zu finden sein: „(Privat-) Insolvenz“ lautet die für Anleger so frustrierende Antwort. Daher haben sie schon im Juni begonnen, den Abschlussprüfer der deutschen Ernst & Young (EY) auf Schadensersatz zu verklagen. Der Vorwurf lautete, dass EY die Bilanzen von Wirecard nicht ausreichend geprüft und die Anleger damit vorsätzlich sittenwidrig geschädigt habe, Paragraf 826 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Aber: Selbst wenn das internationale Netzwerk von EY Gelder dazuschießen sollte, haben Kommentatoren darauf hingewiesen, dass das Vermögen angesichts der Schadenshöhe dennoch nicht ausreichen könnte.

Schon früh ist daher der „debtor of last ressort“, also der deutsche Staat, ins Blickfeld der Anleger gerückt. Seit der Finanzkrise 2008 weiß der Kapitalmarkt, dass die Bundesrepublik über auskömmliche Haftungsmasse verfügt. Schwierig war es bislang allein einzuschätzen, ob der deutsche Staat wegen der Wirecard-Schäden den Anlegern überhaupt haften muss. In das Dickicht der juristischen Argumente bringt nun ein von der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) beauftragtes Gutachten des Rechtswissenschaftlers Moritz Renner von der Universität Mannheim die erforderliche Durchsicht. Und ein mit Spannung erwarteter Bericht der europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde ESMA (European Securities and Markets Authority) liefert dazu die Fakten, aus denen sich die notwendigen Pflichtverletzungen der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR), der Finanzaufsicht BaFin und des deutschen Staates ergeben könnten.

Der „Francovich“-Ansatz

Zwar hat es der deutsche Gesetzgeber bislang erfolgreich vermocht, eine Haftung der BaFin für Pflichtverletzungen durch Paragraf 4 Absatz 4 Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz (FinDAG) auszuschließen. Dieser regelt, dass die BaFin ihre Aufgaben und Befugnisse nur im öffentlichen Interesse wahrnimmt. Individual-Schadensersatzansprüche von Anlegern gegen die BaFin sind damit ausgeschlossen und auch der Bundesgerichtshof (BGH) droht ganz aktuell, Klagen von Anlegern der P&R-Container gestützt auf Paragraf 4 FinDAG zurückzuweisen. Dies alles, obwohl gewichtige Stimmen seit jeher argumentieren, dass die Haftungsprivilegierung der BaFin einen Systembruch im deutschen Recht darstelle und mit höherrangigem europäischem Recht unvereinbar sei. Bislang haben es die deutschen Gerichte aber vermeiden können, die Frage nach der Wirksamkeit der Privilegierung dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Vorabentscheidung vorzulegen.

Nun, der Wirecard-Skandal könnte das ändern: In einem Klageverfahren wegen Wirecard könnte wegen der „europäischen Aufmerksamkeit“ diese Weigerung zur Vorlage an den EuGH bei den deutschen Gerichten endlich fallen, mit der Aussicht, dass der EuGH den Haftungsausschluss der BaFin als unwirksam erklärt.

Das Renner-Gutachten weist aber einem zweiten Weg zur Staatshaftung noch mehr Erfolgsaussichten zu. Die Bundesrepublik Deutschland haftet nämlich nach gefestigter Rechtsprechung in Fällen der fehlerhaften Umsetzung europäischen Rechts. Ausgangspunkt ist die sogenannte „Francovich“-Rechtsprechung des EuGH, die Rechtsunterworfenen einen eigenständigen unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch zuweist, wenn qualifizierte Verstößen gegen individualschützendes EU-Recht von dem Gesetzgeber eines Mitgliedstaat begangen wurden, sogenanntes legislatives Unrecht. Dann greift ein unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch, der eine eigenständige Haftungsgrundlage ist und dessen Voraussetzungen sich unmittelbar aus dem Unionsrecht ergeben. Der „Francovich“-Ansatz bewog schon die aktuelle Bundesregierung dazu, Thomas-Cook-Kunden mit 300 Millionen Euro aus Bundesmitteln zu entschädigen, da wegen mangelhafter Umsetzung der EU-Pauschalreiserichtlinie durch die Bundesrepublik der Sicherungsschutz nicht ausreichend gewesen war.

Drei Konsequenzen

Hinsichtlich Wirecard sind die EU-Transparenzrichtlinie und EU-Capital Requirements Regulation (CRR) ausschlaggebend. Mit diesen ist der Bundesrepublik aufgegeben, ein funktionierendes System zur Bilanzkontrolle zu etablieren, welches dem Individualschutz der Kapitalmarktanleger dienen soll. Eine Analyse des hierauf vom deutschen Gesetzgeber geschaffenen Zwei-Stufen-Systems von privatrechtlicher DPR und öffentlich-rechtlicher BaFin zeigt aber, dass in Deutschland wohl ein dysfunktionales System zur Bilanzkontrolle aufgebaut wurde. Insbesondere könnten die zuständigen Stellen (DPR und Bafin) nicht mit ausreichend Befugnissen zur Erfüllung ihrer Aufgaben ausgestattet worden sein. Wesentlicher Anknüpfungspunkt ist die Frage, ob die BaFin die Möglichkeit gehabt hat, ein zunächst bei der DPR angesiedeltes Verfahren zur Bilanzkontrolle bei der Wirecard AG an sich zu ziehen. Denn nur die BaFin hatte die vom Unionsrecht vorausgesetzten hoheitlichen Eingriffsbefugnisse für ein etwaiges Enforcement der Bilanzkontrolle. Die DPR als privatrechtlicher Verein war hingegen auf die freiwillige Mitarbeit von Wirecard angewiesen und ist insoweit zahnlos.

Ein von der Bafin inzwischen beauftragtes Gutachten beantwortet die Frage dahingehend, dass die Bafin das (zunächst bei der DPR angesiedelte) Bilanzkontrollverfahren zur Wirecard AG nicht an sich ziehen hätte können. Denn der BaFin hätten hierfür die gesetzlichen Befugnisse gefehlt, selbst wenn Betrugshandlungen des Vorstands der Wirecard AG im Raum standen. Und genau in diese Kerbe schlägt nun auch der ESMA-Bericht: Detailliert zeigt er auf 189 Seiten auf, dass die deutschen Vorschriften die effektive Kommunikation von DPR und Bafin, die Abgrenzung von Befugnissen und Zuständigkeiten sowie das Ergreifen von Maßnahmen durch DPR und BaFin beim Wirecard-Skandal behindert hätten. Für den unionsrechtlichen Haftungsanspruch ist es zudem unerheblich, genau welche Stelle (DPR, Bafin, deutscher Gesetzgeber) den Verstoß begangen hat, so dass einiges dafür spricht, die Rechtsverstöße unterschiedlicher staatlicher Organe kumuliert betrachten zu können. Das Gesamtbild wäre nach Renner dann eindeutig: Versäumnisse auf unterschiedlichen Ebenen deutschen staatlichen Handelns haben zusammen dafür gesorgt, dass trotz klarer Anhaltspunkte für eine Bilanzmanipulation bei Wirecard nicht wirksam durch die Behörden ermittelt werden konnte, anders als es das Unionsrecht verlangt. Dann könnte die Bundesrepublik Anlegern für den dadurch entstandenen Schaden haften.

Im Ergebnis öffnen diese Argumente den Wirecard-Anlegern mehr als nur einen Spalt breit die Türen zu einem Staatshaftungsanspruch gegen die Bunderepublik. Und für die Frage nach dem „who pays for it“ ergeben sich drei Konsequenzen: Erstens, jeder Anleger sollten prüfen, zeitnah EY zu verklagen. Zweitens, jeder Anleger sollte die gerichtliche Inanspruchnahme der Bundesrepublik Deutschland ernsthaft überlegen und drittens, die Diskussion um einen staatlichen Entschädigungs-Fonds für Wirecard-Anleger wird Fahrt aufnehmen. Jedenfalls: Die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) hat darauf spezialisierte Rechtsanwaltskanzleien nunmehr beauftragt, für Wirecard-Investoren Muster-Klagen gegen die Bundesrepublik Deutschland zu erheben. Über den Fortgang werden wir informieren.

Autoren sind die Rechtsanwälte Robert Peres (Initiative Minderheitsaktionäre) und Marc Liebscher (Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger).

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