Jörg Angelé, Bantleon (Foto: Bantleon)
Jörg Angelé, Senior Economist des Asset Managers Bantleon:
„Die größte Überraschung des gestrigen EZB-Ratstreffens ist die Entscheidung, die Reinvestitionen der im Rahmen des PEPP gekauften Anleihen ab Juli 2024 monatlich um durchschnittlich 7,5 Mrd. EUR zu reduzieren und ab Anfang 2025 gänzlich einzustellen. Noch im Oktober hatten die Währungshüter in Aussicht gestellt, die Reinvestitionen in vollem Umfang bis mindestens Ende 2024 fortzusetzen.
Bei den Konjunktur- und Inflationsprognosen hat die EZB ihre Annahmen für 2024 wie zu erwarten nach unten angepasst. Im kommenden Jahr sollen die Verbraucherpreise demnach um 2,7% steigen, statt wie bisher erwartet um 3,2%. Ihr Inflationsziel erreicht die EZB gemäß der neuen Projektionen im Schnitt der Jahre 2025 und 2026. Die Kerninflationsrate soll dagegen auch 2026 noch oberhalb von 2,0% liegen. Verantwortlich hierfür sind gemäß EZB die merklich steigenden Lohnstückkosten.
Die BIP-Prognose für das kommende Jahr wurde leicht von 1,0% auf 0,8% nach unten korrigiert. Die EZB rechnet zwar mit einer dämpfenden Wirkung ihrer Zinsanhebungen auf die Bau- und Ausrüstungsinvestitionen, zugleich erwartet sie jedoch eine Belebung des privaten Konsums als Folge der im nächsten Jahr spürbar steigenden Realeinkommen. Zudem unterstellt sie ein Anziehen der Auslandsnachfrage. Letztere Einschätzung teilen wir nicht. Wir gehen von einer Abkühlung der globalen Nachfrage infolge der von uns prognostizierten scharfen Konjunkturabkühlung in den USA aus. Unserer Einschätzung nach wird das Wirtschaftswachstum in der Eurozone 2024 daher stagnieren bzw. nur marginal zulegen.
Trotz der für die EZB überraschenden Fortschritte in Sachen Inflation in den vergangenen Monaten war Präsidentin Christine Lagarde zurückhaltend mit Blick auf die weitere Geldpolitik. Sie betonte mehrfach, insbesondere der binnenwirtschaftliche Inflationsdruck sei nach wie vor zu hoch. Außerdem stellte sie klar, dass der EZB-Rat im Zuge des heutigen Treffens nicht über Zinssenkungen diskutiert habe und kein Ratsmitglied eine solche gefordert hätte. Diesen eher falkenhaften Äusserungen standen aber auch taubenhafte Kommentare gegenüber. So wollte sie frühere Aussagen nicht wiederholen, denen zufolge die Leitzinsen noch für mehrere Quartale auf dem aktuellen Niveau verharren werden und hielt sich damit die Tür für Leitzinssenkungen offen. Selbst auf die Frage, ob die aktuell an den Geldterminmärkten für 2024 eingepreisten Zinssenkungen um knapp 150 Bp überzogen seien, vermied sie eine klare Antwort. Stattdessen sagte Lagarde mehrfach, die EZB sei datenabhängig und werde von Ratstreffen zu Ratstreffen entscheiden. Wir interpretieren die Aussagen der EZB-Präsidentin dahingehend, dass Zinssenkungen bereits im 1. Quartal 2024 unwahrscheinlich sind. Darüber hinaus will man sich aber alle Optionen offen halten
Die gestrige Zinsentscheidung hat insbesondere wegen der Beschlüsse zum PEPP einen leicht falkenhaften Charakater. Nichtsdestotrotz stellt sie unserer Einschätzung nach den Einstieg in die Zinssenkungsdiskussion dar. In den kommenden Monaten dürfte klar werden, dass die EZB den Disinflationstrend nach wie vor unterschätzt. Die Teuerungsrate wird sich unseren Berechnungen zufolge nach einem kleinen Zwischenhoch im Dezember weiter zurückbilden und in der zweiten Jahreshälfte 2024 unter 2,0% sinken. Auch der unterliegende Preisauftrieb, die sogenannte Kernrate wird unserer Einschätzung nach abebben. Bereits im 1. Quartal 2024 erwarten wir einen Rückgang auf 3,0% und ab Mitte 2024 Werte von rund 2,5%. Zugleich dürfte die Eurozone auch im 1. Halbjahr 2024 in einem rezessiven Umfeld verharren. Wir gehen daher davon aus, dass die Zinsen schon im 1. Halbjahr 2024 wieder sinken und erwarten je eine Zinssenkung um 25 Bp im April und im Juni, sowie mindestens zwei weitere Schritte gleicher Größenordnung im 2. Halbjahr. Je nach Ausmaß des konjunkturellen Abwärtstrends ist auch eine noch stärkere geldpolitische Lockerung möglich, die den Leitzinssatz erkennbar unter das neutrale Niveau führt, das wir bei etwa 3,0% ansetzen.“