Starre Grenzen für den Renteneintritt sind überholt. Deutschland ist im internationalen Vergleich rückständig und trotzdem probt die schwarz-rote Regierungskoalition in der Altersversorgung die Rolle rückwärts.
Kolumne von Prof. Dieter Weirich, DIA
Es gibt ein Ritual in der deutschen Politik. Der Bundespräsident hält eine kluge Festrede, die Parteien begrüßen pflichtschuldigst seine weiterführenden Gedanken, Kommentatoren meditieren über die geistigen Ausflüge des Staatsoberhauptes, dann geht man zur Tagesordnung über.
So droht es auch der in Archiven dahindämmernden, eineinhalb Jahre alten Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck vom Deutschen Seniorentag in Hamburg zu ergehen. Der erste Mann im Staate plädierte damals für eine längere Lebensarbeitszeit ohne starre Grenze für den Renteneintritt wie er in vielen Ländern der Welt üblich ist.
Der demographische Wandel verliere dann seinen Schrecken, wenn die Politik nicht starr an bestehenden Systemen, Vorgaben und Eckpunkten festhalte. „Ich wünsche mir, dass jene, die es wollen, über die Lebensarbeitszeit hinaus beruflich aktiv bleiben können“ schloss der selbst 73 Jahre alte Bundespräsident damals.
Renteneintritt: Mehrheit für Flexibilität
Das sieht auch die große Mehrheit der Deutschen so. Folgt man der jüngsten, vom Deutschen Institut für Altersvorsorge (DIA) in Auftrag gegebenen Repräsentativumfrage, plädieren mehr als zwei Drittel der Bürger für die Abschaffung des festen Eintrittsalters für die gesetzliche Rente und wünschen sich mehr Selbstbestimmung bei der Gestaltung des Renteneintritts.
So stimmten 70 Prozent der Befragten einer Korridorlösung von mehreren Jahren zu, bei der sie selbst entscheiden können, wann sie in Rente gehen. Die Höhe der Rente bei Renteneintritt hängt dabei vom jeweiligen Zeitpunkt ab: Je später der Eintrittszeitpunkt, desto höher die Rente.
Als Alternative können sich 71 Prozent aber auch den völligen Verzicht auf ein festes Renteneintrittsalter vorstellen, wobei es lediglich eine Untergrenze für den frühestmöglichen Renteneintritt gibt. Auch dabei würde die Höhe der Rente entsprechend des jeweiligen Eintrittsalters berechnet.
Fast vier Fünftel der Befragten sprachen sich zudem dafür aus, das Sonderkündigungsrecht des Arbeitgebers bei Erreichen eines bestimmten Alters abzuschaffen. Dazu müssten die Regelungen in den Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen geändert werden, die eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses ab einem bestimmten Alter vorsehen.
Lebenserwartung steigt an
Die Senioren von heute sind fitter als ihre Vorgänger, leben im Schnitt gesünder und werden immer älter. Die Lebenserwartung in entwickelten Ländern steigt kontinuierlich um fast drei Monate pro Jahr an. In vielen Ländern hat man sich dem veränderten Altersbild in Beruf und Gesellschaft intelligenter und schneller als in Deutschland angepasst.
In Norwegen steht jeder Fünfte der über 65-jährigen noch im aktiven Erwerbsleben, in der Schweiz sind es immerhin noch elf Prozent. In Deutschland sind es gerade mal fünf Prozent. Bis 2060 wird jeder dritte Deutsche 65 Jahre und älter sein.
Wir können es uns gar nicht leisten, auf die Lebens- und Berufserfahrung dieser Menschen zu verzichten. Es wäre eine gefährliche Verschleuderung volkswirtschaftlicher Ressourcen. Die Folgen der ebenso teuren wie kurzsichtigen Massen-Frühverrentungen der Vergangenheit spüren wir noch heute. Es ist höchste Zeit zur Umkehr.
Seite zwei: Schwarz-rote Rolle rückwärts beim Renteneintritt