Die Kehrseite der Zentralbankunabhängigkeit

Die jüngere Vergangenheit

Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass Zentralbankunabhängigkeit ein relativ neues Phänomen ist. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle erhielten Zentralbanken der Industrienationen ihre Unabhängigkeit bei der Bestimmung der Geldpolitik erst in den 1980er- oder sogar erst in den 1990er-Jahren. Die Bank of England wurde 1694 gegründet, erhielt aber zum Verfolgen des – von der Regierung vorgegebenen – Ziels einer Inflation von 2 Prozent erst 1997 ihre operative Unabhängigkeit, also im Jahr 303 ihres Bestehens. Der Hauptgrund dafür, Zentralbanken unabhängig zu machen, war die Erhöhung der Glaubwürdigkeit der Geldpolitik, die nach dem Dahinscheiden des Goldstandards und der darauffolgenden großen Inflation der 1970er- und frühen 1980er-Jahre die Inflationsbekämpfung zum Ziel hatte. Hohe und volatile Inflation war zum Hauptfeind der Wirtschaft geworden, und die Lösung bestand darin, die Geldpolitik ausschließlich auf die Stabilisierung der Inflation auf niedrigen Niveaus zu fokussieren, wobei Unabhängigkeit das Erfüllen dieser Aufgabe leichter machte.

Deflation bereitet weiter Sorgen

Doch es gibt eine Asymmetrie in der Geldpolitik, denn Zentralbanken können mehr tun, um die Inflation im Zaum zu halten, als sie tun können, um sie auf Trab zu bringen. Die Hauptprobleme von heute und sehr wahrscheinlich auch noch über einen längeren Zeitraum sind anhaltende disinflationäre oder sogar deflationäre weltweite Kräfte, Schuldenüberhänge im öffentlichen und privaten Sektor und das Potenzial für neue Finanzkrisen. Viele Beobachter fragen sich, ob Zentralbanken die Möglichkeiten der gewöhnlichen oder unkonventionellen Geldpolitik, die sie seit der Finanzkrise genutzt haben, ausgeschöpft haben. Einige dieser Beobachter könnten noch weiter gehen und sagen, dass Zentralbanken besser gerüstet wären, die Herausforderungen der heutigen Wirtschaft zu meistern, wenn sie in enger Zusammenarbeit mit und unter der Kontrolle einer demokratisch legitimierten Regierung agieren würden.

Ein Argument für die unmittelbare Einbindung und Verantwortung von Regierungen ist die Tatsache, dass viele Entscheidungen, die erforderlich sind, um die größten Probleme von heute zu lösen, bedeutende Verteilungskonsequenzen haben und damit eher in den Bereich der Finanzpolitik als der Geldpolitik fallen. Man denke nur an die Entscheidung, ein großes Finanzinstitut zu retten oder ein anderes untergehen zu lassen (da fallen einem viele Namen aus der Finanzkrise von 2008 bis 2009 ein). Man denke nur an die Entscheidung, die Rolle des Kreditgebers der letzten Instanz zu übernehmen (da fallen einem einige Namen aus der jüngsten Krise in der Eurozone ein). Oder man denke an die Entscheidung, im grossen Stil Vermögenswerten des öffentlichen und/oder privaten Sektors anzukaufen und negative Zinssätze einzuführen, um zu versuchen, die Inflation wieder auf das angestrebte Niveau zu bringen. All das sind schwere Entscheidungen für eine unabhängige Zentralbank, die dann, falls sie sie trifft, von denjenigen scharf kritisiert wird, die bei der daraus resultierenden Umverteilung verlieren.

Seite drei: Sündenböcke gesucht

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