Folker Hellmeyer, Chefanalyst der Bremer Landesbank, sprach mit Cash. über den europäischen Aktienmarkt und warum Anleger Europas Wirtschaft viel mehr Vertrauen schenken sollten.
Cash.: Anfang des Jahres ging es beim Dax fulminant nach oben, ebenso jäh stürzte der deutsche Leitindex wenige Monate später wieder nach unten. Die Börsenwelt scheint aus den Fugen geraten zu sein.
Hellmeyer: Das ist sie in der Tat und das aus mehreren Gründen. Zunächst gibt es eine viel größere Volatilität an den Märkten, weil es immer weniger Institutionen gibt, die Marketmaker sind und die durch die in den Markt gegebene Liquidität Kursbewegung abgepuffert haben. Darüber hinaus ist die Zentralbankpolitik heute eine determinierende Kraft an den Finanzmärkten. Durch die von ihnen verursachte Überschussliquidität entstehen große Bewegungen, insbesondere wenn diese Größe der Liquiditätzufuhr in der Form vom Markt nicht zuvor antizipiert worden ist. Das war die Situation, die wir eingangs des Jahres hatten. Die EZB hat ein größeres Programm als erwartet und in einem komprimierten Zeitraum auf die Beine gestellt. Und daraufhin gab es einen drastischen Anlagenotstand, der eben in diesem deutlichen Anstieg bis zu 12.400 Punkte im Dax führte. Als Ergebnis müssen wir festhalten: Die Rolle, die Börsen zu spielen haben, nämlich eine faire Bepreisung von Finanzaktiva, wird nicht mehr erfüllt.
Früher gab es an der Börse Gesetzmäßigkeiten. Wenn die Zinsen stiegen, fielen die Aktien und umgekehrt. Heutzutage erlebt man nicht selten, dass beides gemeinsam steigt oder fällt. Woran soll man sich als Anleger noch orientieren?
Die klassischen Regeln sind durch die politischen Interventionsprogramme ausgehebelt worden. Das heißt, die Mechanismen werden ausgesetzt, um ein bestimmtes Massenverhalten, das dann in der Krise zunächst einmal hilfreich sein kann, zu forcieren. Das Diabolische daran ist nur, dass das, was gut gemeint ist, am Ende dann vielleicht doch nicht so aufgeht, denn diese Medizin hat Nebenwirkungen und kann zu anderen Problemen führen, wie etwa Überbewertung in bestimmten Anlagemärkten, die ebenfalls wieder korrigiert werden müssen. Schlussendlich handelt es sich um eine Finanzintervention, die die Funktion der Kosmetik hat. Wenn diese nicht von Strukturpolitik begleitet wird, um die wirklichen Probleme zu heilen, erhöhen Sie damit nur den Anpassungsbedarf in der nächsten Krise, der sich dann verschärfend auf den volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Anpassungsprozess auswirkt. Während die Eurozone nachhaltige Strukturpolitik gemacht hat, flankiert durch Finanzintervention, gibt es diese in den USA und Japan und auch zum großen Teil in Großbritannien seit 2008 nicht. Dort wirkt ausschließlich die Finanzinterventionen als Grundlage einer Stabilisierung. Und dafür wird ein Preis zu zahlen sein. Wir sehen im jetzigen Umfeld der Weltkonjunktur, die sich nach IWF-Zahlen von 3,6 auf 3,1 Prozent abgeschwächt hat, dass die Eurozone im selben Zeitraum eine ganz andere Performance hinlegt. Da lagen die Prognosen beim IWF bei einem Prozent und sind jetzt bei 1,5 Prozent. Also gegen einen schwächeren weltwirtschaftlichen Wachstumstrend performt die Eurozone besser als vorher antizipiert.
Warum ist das so?
Aufgrund der stringentesten Reformen, die wir in der Geschichte der Industrienationen umgesetzt haben. Es gibt eine Daumenregel von Goldman Sachs. Je nach Flexibilitätsgrad einer Volkswirtschaft sind Reformen in der Größenordnung von ein bis zwei Prozent der Wirtschaftsleistung pro Jahr machbar, ohne das Gesamtkonstrukt zu gefährden. Wir haben in Spanien, Portugal und Irland über drei, vier Jahre Anpassungen von 2,5 bis drei Prozent der Wirtschaftsleistung umgesetzt. In Griechenlang lagen wir über vier, fünf Jahre bei vier bis fünf Prozent der Wirtschaftsleistungen. So etwas hat es in der Geschichte noch nie gegeben, das ist schmerzhaft in der ersten Phase der Anpassung. Schafft aber dann den Boden eben für nachhaltiges, selbst generiertes Wachstum. Und genau das erleben wir im Moment in der Eurozone. Schauen Sie auf die Wachstumstreiber in der Eurozone, das ist Irland mit knapp sechs Prozent, das ist Spanien mit mehr als drei Prozent, das ist Portugal mit zwei Prozent. Insofern kommt die Eurozone jetzt richtig in Fahrt. Und wir haben in Deutschland, das möchte ich hier betonen, bei den Auftragseingängen zum Beispiel, den größten positiven Impuls aus der Eurozone, der kommt nicht aus China, der kommt nicht aus den USA, der kommt aus der Eurozone. Und das ist Ausdruck der Reformpolitik. Leider – und das möchte ich an dieser Stelle ganz deutlich betonen – leider versagt meine Branche der Analysten und Volkswirte vollständig, diese Divergenz zwischen den konjunkturellen Entwicklungen und ihre Hintergründe der Öffentlichkeit klar zu machen. Denn dann hätten wir hier in der Eurozone ein viel breiteres Kreuz. Nicht nur als Finanzinvestor, sondern auch als Unternehmer und auch als Bürger der Eurozone. Das bedaure ich sehr.
Interview: Frank O. Milewski
Foto: Florian Sonntag