Es sieht so aus, als wenn die Brexit-Befürworter genauso überrascht vom Ausgang des EU-Referendums gewesen sind wie die Finanzmärkte. Auch der Initiator des Referendums, Premier Cameron, scheint nicht weiter zu wissen.
Gastkommentar von Karsten Junius, Safra Sarasin.
Weder stellt er sein Amt mit sofortiger Wirkung zur Verfügung, noch will er den Ausgang des Referendums umsetzen und den EU-Austritt gemäß Artikel 50 beantragen. Sowohl Tories als auch die Labour Partei scheinen Führungskämpfe vor sich zu haben, die für die Tagesarbeit und die Umsetzung des Referendums wenig Zeit lassen. Im Unterschied dazu scheinen die Prozesse im allzu gescholtenen Brüssel gut zu funktionieren. Trotz dieses Kontrastes muss sich die EU auf Nachahmer einstellen.
Die Ironie des EU-Referendums ist vielleicht, dass die EU-Bürokratie in genau diesen Krisenzeiten zeigt, wie gut ihre Prozesse eigentlich funktionieren. Während die politischen Führer in UK seit Bekanntgabe des Wahlausgangs keine Antworten geben können, wie es nun weitergehen soll, sendet die EU-Spitze bereits seit Freitagmorgen klare Botschaften. Auf dem EU-Gipfel am Dienstag und Mittwoch wird von UK erwartet, den Austrittsantrag zu stellen, um die Phase institutioneller Unsicherheit möglichst kurz zu halten. Genau darauf scheinen die Brexit-Befürworter aber wohl kaum vorbereitet zu sein. In dem sehr emotional geführten Wahlkampf wurden technische Fragen genau wie Sachargumente von der «Leave»-Kampagne gerne beiseitegeschoben.
Unsicherheit hält weiter an
Als Konsequenz sieht vieles um den Austritt wieder sehr unsicher aus. So wird inzwischen bereits wieder diskutiert, ob das Parlament überhaupt einen Austritt aus der EU beantragen sollte und falls ja, ob das nicht deutlich mehr Vorbereitung bedarf – und falls all dies geschieht, ob Schottland nicht erneut ein Unabhängigkeitsreferendum anstrebt, um in der EU bleiben zu können. Das Resultat dürfte ein politischer Führungsstreit in UK sein, der zu einer längeren Phase institutioneller Unsicherheit führt. Dass UK in einer solchen Phase eine Rezession vermeiden können wird, erscheint uns unwahrscheinlich. Konjunkturelle Bremsspuren werden sich aber auch für Europa nicht verhindern lassen, sodass in den nächsten Wochen Abwärtsrevisionen der Wachstumsprognosen von den meisten Instituten zu erwarten sind.
[article_line]
Die Finanzmärkte werden mit längerer Unsicherheit leben müssen. Nachdem sie beim Thema Brexit auf dem falschen Fuss erwischt wurden, werden sie nun andere adverse Entwicklungen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einpreisen. Dazu wird eine US-Präsidentschaft von Donald Trump genauso gehören wie eine französische Präsidentschaft von Marine Le Pen. Und Populisten in allen Ländern werden von dem Wahlausgang in UK lernen, dass sich eine EU-kritische Argumentation und Emotionalisierung lohnt. Der nächste zentrale Schritt für Europa und die Währungsunion wird das Referendum über die italienische Verfassungsreform im Oktober sein. In diesem Umfeld wird die Unsicherheit bezüglich der weiteren politischen Entwicklungen und an den Märkten eher hoch bleiben als sich schnell zu beruhigen.
Karsten Junius ist Chefökonom bei der Bank J. Safra Sarasin, Schweiz.
Foto: Bank J. Safra Sarasin