„Hinter dem Brexit-Referendum steckt eine ordentliche Portion Ironie, da nach meiner Auffassung Großbritannien nie der EU beigetreten ist“, sagt Steen Jakobsen, Chefvolkswirt und CIO bei der Saxo Bank.
Als ein Kind der 1970er und 1980er Jahre erinnere er sich daran, wie die damalige Premierministerin Margaret Thatcher die Bildung der EU mit allen Mitteln bekämpfte und letztendlich ein Modell nach ihren Wünschen bekam. Eine noch größere Ironie beinhalte dabei der Deal, den der aktuelle Premierminister David Cameron vor einigen Monaten mit der EU in Brüssel ausgehandelt hat, um die Voraussetzungen für einen EU-Verbleib zu schaffen. „Damit hat die Europäische Union de facto rechtlich ein zweigleisiges Europa geschaffen, mit einem Regelwerk für Großbritannien und einem Regelwerk für Resteuropa“, sagt Jakobsen.
Mini-Krise in Europa möglich
Ungeachtet des Referendum-Ausgangs am 23. Juni könnte die britische Sonderrolle an sich zu einer Mini-Krise in Europa führen. „Ich kann mir gut vorstellen, dass sich Länder wie Ungarn, Polen oder sogar Finnland solche Deals mit der EU wünschen, die ihnen wie im Falle Großbritanniens Sonderrechte zusichern“, sagt Jakobsen. „Egal ob Großbritannien nun aufgrund des zweigleisigen Präzedenzfalles in der EU bleibt, oder für den Austritt stimmt: In beiden Fällen verliert Europa“, so Jakobsen weiter. Sowohl die politischen als auch die finanziellen Kosten scheinen unüberwindbar. Insbesondere, da die Flüchtlingskrise bei weitem noch nicht gelöst sei.
Defizit im Vereinigten Königreich ist problematisch
Die Zukunft Großbritanniens hänge aber nicht vom Brexit ab, sondern davon, wie das Königreich mit seinem chronischen Doppeldefizit umgehen werde. „Zum letzten Mal konnte das Land 1982 eine positive Leistungsbilanz vorweisen“, sagt Jakobsen. Um die Frage danach zu beantworten, wie sich das Britische Pfund entwickeln wird sei einfach: Mit oder ohne Brexit, der Sterling werde sich nach unten oder seitwärts bewegen. Solange das Land mehr ausgibt als einnimmt, von ausländischen Investitionen abhängig ist und die zwei Wachstumstreiber aus dem Banken- und Immobiliensektor bestehen (zwei Sektoren mit null Produktivität und einer unsicheren Zukunft bezüglich neuer Arbeitsplätze), sei das Land dazu verdammt, seine jüngere Geschichte zu wiederholen.
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„Der Brexit ist eine Abstraktion, die die richtigen Veränderungen, die das Land braucht, verdeckt. Er ist auch eine Ausrede dafür, sich nicht mit den fundamentalen und strukturellen Problemen einer Gesellschaft auseinanderzusetzen zu müssen, die darauf zusteuert, eine nahezu hundertprozentige Dienstleistungsgesellschaft zu werden“, sagt Jakobsen. Eine Steuerreform und somit neue Anreize seien viel wichtiger als Großbritanniens EU-Status. „Ich möchte damit den Stellenwert des Referendums nicht herunterspielen, aber es hat weniger mit der Zukunft der britischen Wirtschaft zu tun, als mit der Rolle Großbritanniens in Europa“, sagt Jakobsen abschließend. (tr)
Foto: Saxo Bank