Beginnt die EZB, die Geldpolitik zu normalisieren? Steigende Inflations- und Arbeitsmarktzahlen sprechen dafür, die Überschuldung einiger Euro-Staaten dagegen. Anleger und Ökonomen werden am kommenden Donnerstag gespannt nach Lettland schauen, wo der EZB-Rat tagen wird. Gastbeitrag von Stefan Isaacs, M&G
Bis vor kurzem dürfte sich die Europäische Zentralbank (EZB) auf einem guten Weg zur Zinswende gesehen haben. Rosige Aussichten für Unternehmen und Arbeitnehmer in der Eurozone, ein gesünderer Bankensektor, billige Kredite für Unternehmen und Staaten und eine leicht anziehende Inflationsrate – nach Jahren der ultralockeren Geldpolitik sprach Ende 2017 alles für eine allmähliche Normalisierung.
Populismus gefährdet Wirtschaft
Keine sechs Monate später ist die Welt wieder komplizierter geworden. Die Konjunkturdaten haben sich abgeschwächt. Und die jüngsten Ereignisse in Italien haben uns daran erinnert, dass man die Gefahren einer populistischen Politik für die Wirtschaft nicht unterschätzen sollte.
Noch vor ein paar Wochen schien es nach den Bewertungsmaßstäben der Anleihemärkte in Italien kein nennenswertes Risiko zu geben: Ende April lag die Rendite zehnjähriger italienischer Staatsanleihen bei unter zwei Prozent und für Laufzeiten unter drei Jahren im negativen Bereich. Das hat sich nun geändert. Die Renditen italienischer Anleihen sind drastisch gestiegen und die Märkte insgesamt nervöser.
Zwar mag sich die EZB damit trösten, dass die Ansteckungsgefahr auf andere Märkte der Euro-Peripherie seit der Eurokrise angesichts von Strukturreformen und robuster Konjunktur gesunken ist, aber es gut möglich, dass sich die Anhänger einer expansiven Geldpolitik im EZB-Rat für eine Rücknahme der Anreize noch nicht bereit fühlen.
Anleger müssen höhere Risiken eingehen
Jens Weidmann und andere namhafte Falken werden das anders sehen. Sie dürften darauf verweisen, dass die Inflation in Deutschland zuletzt auf 2,2 Prozent gestiegen ist und der Arbeitsmarkt in der Eurozone anzieht.
Die Sparer sind nach wie vor gezwungen, entweder ein beträchtliches Laufzeit- oder ein Kreditrisiko einzugehen, um eine positive Realrendite zu erzielen, und es gibt einige erste Anzeichen für eine Zunahme von Übertreibungen und Ungleichgewichten.
Ein schwacher oder praktisch nicht vorhandener Anlegerschutz ist bei vielen High Yield- und Leveraged-Loan-Transaktionen zur Regel geworden.
EZB sollte vorsichtig bleiben
Bedenken gegen die Nullzinspolitik sind daher nicht unbegründet. Trotzdem besteht die Gefahr, dass diese zu früh umgekehrt wird. Denn den Staaten der Eurozone fehlt finanzieller Spielraum, und das Wirtschaftswachstum kann Unterstützung immer noch vertragen.
Die EZB ist daher gut beraten, weiter eine vorsichtige Haltung einzunehmen. Der Weg zu einer strafferen Geldpolitik sollte nur sehr allmählich beschritten werden.
Stefan Isaacs ist stellvertretender Leiter des Anleiheteams von M&G
Foto: M&G