Zum Jahreswechsel treten wesentliche Teile der EU-„Taxonomieverordnung“ in Kraft. Doch sechs Wochen vor dem Termin sind die Vorschriften nur halbfertig, die Akteure stochern vielfach noch im Nebel und es sind scheinbar mehr Fragen offen als beantwortet. Einmal mehr hat die EU aus einer eigentlich guten Idee ein gewaltiges Regulierungsgestrüpp gemacht, in dem sie sich anscheinend zunehmend auch selbst verheddert.
Das jedenfalls ist der Eindruck, den das Webinar „Intreal Investment Talk Special“ zu dem Thema hinterließ. Das ist nicht den beiden Fachleuten – Hannah Dellemann, ESG-Beauftragte der Intreal sowie Christean Schmidt, Head of Sustainability bei dem Asset Manager Palmira Capital Partners – anzulasten, sondern der noch unvollständigen Regulierung und dem riesigen Bürokratieberg.
Doch von vorn: Die EU-Taxonomieverordnung definiert europaweit einheitliche Kriterien für ökologisch nachhaltige Finanzprodukte. Sie ergänzt die EU-Offenlegungsverordnung, die bereits im März 2021 in Kraft getreten ist. Diese wiederum schreibt unter anderem den Anbietern von Finanzprodukten vor, bestimmte Informationen zur Nachhaltigkeit auf ihrer Website, in ihren Prospekten, ihrer Werbung und/oder ihren Geschäftsberichten zu berücksichtigen. Ab voraussichtlich Herbst 2022 soll auch der Vertrieb die Kriterien in die Kundenberatung einbeziehen.
Taxonomieverordnung hält nicht, was ihr Name verspricht
Das Ganze soll dazu dienen, Kapital in nachhaltige Investitionen zu lenken und so in erster Linie dazu beitragen, die Ziele der Klimakonferenz von Paris zu erreichen. Doch nicht nur das: Neben weiteren Belangen der Umwelt (Environment) geht es auch um soziale Aspekte (Social) und Unternehmensführung (Governance), zusammen kurz ESG.
So weit, so gut. Doch schon die Taxonomieverordnung hält nicht, was ihr Name verspricht. Zum einen bezieht sie sich nur auf die Umweltziele. Zum anderen ist sie überwiegend recht allgemein gehalten und verweist auf eine weitere (delegierte) Verordnung sowie technische Regulierungsstandards (RTS), die es teilweise noch nicht oder nicht final gibt. Soweit die Detailvorschriften vorliegen, lassen sie, jedenfalls für den Bereich der Immobilien, außerdem ihrerseits noch eine Menge Fragen offen. Das wurde bei dem Intreal-Webinar deutlich.
Dabei geht es zum Beispiel um die Vergleichsmaßstäbe für den Primärenergieverbrauch eines Gebäudes, also ein zentrales Kriterium. Aber auch grundlegende Punkte wie die Einstufung einer Immobilie oder eines Fonds als nachhaltig nach Artikel 8 oder nach Artikel 9 der Offenlegungsverordnung sind noch nicht abschließend geklärt.
„Ambitions-Level noch ungeklärt“
Für Artikel 8 reichen (einzelne) Nachhaltigkeitsmerkmale aus. Noch offen ist, welche Maßstäbe dafür mindestens anzulegen sind. „Das Ambitions-Level ist noch ungeklärt“, wie Schmidt formulierte. Für Artikel 9 ist ein wesentlicher Beitrag zu einem der Umweltziele Voraussetzung. Diese Angebote werden deshalb auch „Impact-Produkte“ genannt. Voraussetzung ist zudem, dass mit der Investition keine „erhebliche Beeinträchtigung“ der anderen Umweltziele verbunden ist. Auch damit ist noch einige Unsicherheit verbunden.
Sechs solche Umweltziele definiert die Taxonomieverordnung:
- Klimaschutz
- Anpassung an den Klimawandel;
- Nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen
- Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft
- Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung
- Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme
Nur für die ersten beiden Umweltziele tritt die Taxonomieverordnung Anfang 2022 in Kraft, für die vier weiteren erst ein Jahr später. Der Grund für die zeitliche Staffelung ist wahrscheinlich, dass die EU-Kommission mit den Level-2-Vorschriften nicht hinterherkommt. So liegen für die ersten beiden Kriterien die technischen Einzelheiten inzwischen vor, für den Rest nur ein rund 1.000 Seiten starker Entwurf.
Dabei geht es nicht nur um CO2-Einsparung und Umweltschutz, sondern auch um die Folgen der Klimaveränderung. So kann zum Beispiel auch die Installation von Flutschutzvorrichtungen an neuerdings Hochwasser-gefährdeten Gebäuden ein „Impact-Investment“ sein. Stichwort: „Anpassung an den Klimawandel“.
Selbst die BaFin kritisierte „Verwirrung“
Auch mit insgesamt 13 technischen Regulierungsstandards zur Offenlegungsverordnung ist die Kommission im Verzug. Sie sind wiederum für die Umsetzung der Taxonomie in Prospekten und weiteren Unterlagen wichtig. Im Juli dieses Jahres hat die Kommission deren Anwendungsbeginn von Januar auf Juli 2022 verschoben. Doch auch dieser Termin steht wohl schon wieder auf der Kippe.
Schon im Januar 2021 hatte die BaFin in ihrem „BaFin-Journal“ darauf hingewiesen, dass kurz vor dem Start der Offenlegungsverordnung im März noch immer „wichtige Punkte unklar“ waren. Gar von „Verwirrung“ war dort zu lesen. Statt wie sonst Klarstellungen und Erläuterungen enthielt der BaFin-Artikel hauptsächlich Fragezeichen – ein höchst ungewöhnlicher Vorgang. Dass die Finanzaufsicht selber bei der Regulierung im Dunkeln tappt, dürfte ein Novum sein.
Auch haben demnach die drei europäischen Aufsichtsbehörden für Banken, Versicherungen und Wertpapiere ebenfalls im Januar einen Brief an die Europäische Kommission geschrieben, in dem sie um mehr Klarheit bitten. Geklappt hat das bisher offenbar nur teilweise.
Kriterien für „S“ und „G“ hängen noch in der Luft
So hängen auch die Kriterien für „S“ und „G“ von ESG noch in der Luft. Für die Betroffenen ist das eine ziemliche Zumutung, zumal das Inkraftreten der Verordnungen selbst nicht verschoben wurde. Sicherlich: Auf Sicht werden die Vorschriften vermutlich den gewünschten Effekt haben. Aber offenbar wird es heutzutage als normal angesehen, dass Gesetze nicht ganz fertig sind, bevor sie in Kraft treten.
Hannah Dellemann und Christean Schmidt jedenfalls sind offenkundig optimistisch, dass alles gut wird. Wer jetzt ein „Taxonomie-konformes“ Produkt plant, muss sich aber darauf einstellen, dass noch Änderungen möglich sind und dann Anpassungen an den Investitionskriterien oder den Unterlagen erforderlich sein können.
Das mag für eine KVG relativ einfach sein. Für die Investition selbst, die sich bei Immobilien nicht mal eben korrigieren lässt, ist das indes nicht so unproblematisch. Schließlich ist damit zu rechnen, dass viele Investoren bald nur noch „Taxonomie-konforme“ Objekte in Betracht ziehen werden. Sollte sich später herausstellen, dass man das „Ambitions-Level“ falsch eingeschätzt hat und die ESG-Kriterien doch nicht erfüllt sind, dürfte das zu einem spürbaren Wertverlust der Immobilie führen, weil ein Großteil der potenziellen Käufer ausfällt. Oder es ist hoher Aufwand erforderlich, um die Sache noch zu retten.
Risiko für Projektentwickler
Besonders groß ist dieses Risiko für Projektentwickler, die heute eine Immobilie planen, sie aber erst nach Fertigstellung in vielleicht drei oder fünf Jahren verkaufen wollen. ESG kann dann gar zur Falle werden. Wer heute zum Beispiel nicht bedenkt, wie er die Immobilie eines Tages wieder abreißen und das Material verwerten kann, riskiert auch bei höchster Klima-Qualität des Gebäudes den Verlust der Nachhaltigkeit. Denn dann ist vielleicht das Ziel „Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft“ erheblich beeinträchtigt. Details und Maßstäbe zu diesem Ziel liegen aber noch nicht abschließend vor, was dieses Risiko kaum kalkulierbar macht.
Einmal mehr steht auch die Prospekt- und Vertriebshaftung im Raum, etwa in Bezug auf die (Selbst-) Einstufung eines Fonds als Artikel-8- oder Artikel-9-Produkt. Auch wenn dies mit dem Segen der – selber noch nicht sattelfesten – BaFin geschieht, ist nicht völlig ausgeschlossen, dass am Ende doch wieder Anbieter und Vertrieb etwaige Fehleinschätzungen ausbaden müssen.
Die überbordende Bürokratie hängt auch damit zusammen, dass die Regulierung sich nicht auf das vorrangige Ziel einer CO2-Reduktion beschränkt. Vielmehr will die EU anscheinend gleichzeitig auch alles andere Gute und Schöne in die Welt tragen. Doch damit erreicht sie womöglich zunächst das Gegenteil: Dringend benötigte Investitionen in den Klimaschutz werden behindert oder zumindest verzögert.
Diese Folge droht auch, wenn Anbieter von Finanzprodukten angesichts des Durcheinanders eine ganz andere Option ziehen, die ihnen weiterhin bleibt: Sie pfeifen zunächst auf ESG. In diesem Fall ist neben wenigen Pflichtangaben nur ein Satz in den Emissionsunterlagen erforderlich, der in der Taxonomieverordnung wörtlich vorgeschrieben ist: „Die diesem Finanzprodukt zugrunde liegenden Investitionen berücksichtigen nicht die EU-Kriterien für ökologisch nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten“. Wenigstens in diesem Punkt gibt es keinen Interpretationsspielraum.
Autor Stefan Löwer ist Leiter des Ressorts Sachwertanlagen bei Cash. und Geschäftsführer des zur Cash. Media Group gehörenden Analysehauses G.U.B. Analyse Finanzresearch GmbH.