Die Folgen des demografischen Wandels werden weit überschätzt: So wird etwa die Anzahl der Pflegeplätze nicht so dramatisch steigen, wie gedacht. Diese Auffassung äußerte Thomas Straubhaar, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg, im Gespräch mit dem Deutschen Institut für Altersvorsorge (DIA).
Politik und Wissenschaft seien aufgefordert, die langfristigen Projektionen, mit denen die Entwicklung der Bevölkerung bis 2060 beschrieben würden, „viel behutsamer“ zu verwenden, sagte Straubhaar. „Bei diesen Projektionen handelt es sich um sehr lange Zeiträume. 30, 40, 50 Jahre. In solch langen Zeitspannen, das lehrt die Geschichte, treten immer wieder brutale Brüche auf“, gibt der Volkswirt zu bedenken. Er verwies dabei auf Kriege, das Wirtschaftswunder und die Wiedervereinigung. Nur ein solcher Bruch genüge, damit die Entwicklung ihre Richtung änderte, so Straubhaar.
Straubhaar: Weniger Pflegeheimplätze nötig als gedacht
Weiter ging der Ökonom auf die aktuellen Flüchtlingsbewegungen ein. Entwicklungen wie diese seien eine entscheidende Größe für die Bevölkerungsvorausberechnungen: „Wir hatten Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg, wir hatten einen Zustrom an Gastarbeitern, 16 Millionen neue Bürger durch die Wiedervereinigung, der Zusammenbruch der Sowjetunion löste die Rückkehr vieler Russlanddeutscher aus“, zählte der Forscher auf. „In den nächsten 45 Jahren wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder ein oder zwei solche Ereignisse geben, die die heutigen Berechnungen zu Makulatur werden lassen.“
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Entwarnung gibt Straubhaar zudem im Hinblick auf die wachsende Zahl von Pflegefällen in Deutschland: „Auch ich habe vor einigen Jahren die Auffassung vertreten, dass wir eine stark zunehmende Zahl von Plätzen in Pflegeheimen künftig benötigen werden. Das war nicht zu Ende gedacht. Die Anzahl der Pflegeplätze wird nicht so dramatisch steigen, wie man heute glaubt, weil die Dauer der Pflege pro Person nicht zunimmt. Der Zeitraum verschiebt sich nur nach hinten.“
Die demografische Alterung finde zwar statt, so Straubhaar, das Medianalter wandere nach oben. „Aber die Alten von heute und morgen haben mit den Alten von gestern nur wenig zu tun. So findet zugleich eine Verjüngung statt“, erklärt der Ökonom.
Entwarnung auch bei Fachkräftemangel
Darüber hinaus stellt der Wissenschaftler die Größenordnung des befürchteten Fachkräftemangels in Frage. Die Prognosen, die sich je nach Quelle in einer Spanne von drei bis 15 Millionen Personen bewegten, sind Straubhaar zufolge „nicht seriös“. Schon heute könnten sechs Millionen Menschen mehr dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, ist der Ökonom überzeugt, wenn die notwendigen Bedingungen geschaffen würden. „Dieses zusätzliche Erwerbspotential bestünde, wenn die Arbeitskraft Älterer länger erhalten bliebe, wenn Menschen mit Migrationshintergrund auf die gleiche Weise in den Arbeitsmarkt eingebunden wären wie Menschen ohne Migrationshintergrund und wenn Frauen ebenso beschäftigt wären wie Männer“, folgert Straubhaar. (lk)
Das ausführliche Gespräch mit Prof. Thomas Straubhaar ist auf der DIA-Homepage nachzulesen.
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